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aus: David Harlan, Der Stand der Geistesgeschichte und die Wiederkehr der Literatur, in: Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, S.155-156

Es ist noch gar nicht so lange her, da waren Historiker der Meinung, sie hätten mit dem rein Literarischen nichts mehr zu schaffen, weil ihre Studien endlich auf dem soliden Grund methodischer Objektivität und rationaler Argumentation stünden. Die neueren Entwicklungen in Literaturwissenschaft und Sprachphilosophie heben diese Zuversicht jedoch gehörig untergraben. Nach hundertjähriger Abwesenheit hat nun mehr die Literatur in die Geschichtswissenschaft einzug gehalten und ihren Zirkuszauber aus Metapher und Allegorie, Missverstehen und Aporie, aus Spuk und Schrift erneut aus dem Hut gezogen. Dabei verlangt sie von den Historikern, dass sie sie ausgerechnet inmitten ihres rein auf Wissenschaftlichkeit und Autonomie ausgerichteten Faches dulden.
   Die Rückkehr der Literatur hat die Geschichtswissenschaft in eine tiefe epistemologische Krise gestürzt. Sie hat unseren Glauben an eine eindeutig bestimmbare Vergangenheit in Frage gestellt und sowohl die Möglichkeit geschichtlicher Darstellung als auch unser zeitliches Orientierungsvermögen untergraben. Das Ergebnis hiervon war, dass historisches Wissen zu einem bloßen Stückwerk aus brüchigem Gewebe wurde, hinter dem sich, wie es heißt, eine fundamentale Absenz verbirgt. In diesem Aufsatz wird erörtert, wie die Literatur erneut Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden hat, wie führende Historiker darauf reagiert haben und welche Vorschläge für den weiteren Umgang mit dem Problem richtungsweisend sein könnten.

Die Rückkehr der Literatur wurde in erster Linie von Ferdinand de Saussure vorbereitet mit seiner Behauptung, dass Sprache Erfahrung eher herstelle und artikuliere, als dass sie sie darstelle und reflektiere. Nach Saussure ist die Bedeutung eher eine Funktion innerhalb eines sprachlichen Systems mit festen Regeln und Oppositionen und weniger etwas, das es im Reich der Natur oder der Vergangenheit konkret aufzuspüren gilt. In den späten sechziger Jahren kam der Poststrukturalismus auf als ein Versuch, das feste und in sich geschlossene sprachliche System Saussures durch eine instabile, offene und wandelbare Sprachkonzeption zu ersetzen. Als Erstes attackierten die Poststrukturalisten Saussures Verstänbdnis vom Zeichen als einer Einheit zwischen einem Wort (dem Signifikanten) und der Idee beziehungsweise dem Objekt, für das es steht (das Signifikat). Für Jaques Derrida, Roland Barthes und andere ist diese angebliche Einheit eine Fiktion: Der Signifikant sei nicht an das Signifikat gebunden; vielmehr verweise er lediglich auf andere Signifikanten. Anstelle eines strukturierten Systems zur Erzeugung eindeutiger Bedeutungen blieb uns nichts als eine endlose Kette von Signifikanten, die in der Bedeutung stets nur verschoben wird und letzten Endes doch nie da ist. Es gibt keinen äußeren Bezugspunkt, kein letztes Wort, kein "transzendentales Signifikat", das Bedeutung fixieren und sie auf diese Weise ein für alle Mal garantieren kann. Es gibt nur das ununterbrochene und unaufhörliche Spiel der Signifikanten - von Signifikanten, die von der Tyrannei des Signifikats befreit und somit nicht mehr an das strukturalistische Gitter der Regeln und Oppositionen gebunden sind. Ohne Bindung, ohne Verankerung, ohne Bezugszwang wurden die Worte vieldeutig und nicht mehr kontrollierbar. "Strenggenommen läuft dies", in Derridas eigenen Worten, "auf die Dekonstruktion des Begriffs 'Zeichen' und seiner ganzen Logik hinaus."...


Brendon J. Cannon

Legislating Reality and Politizising History (contextualizing Armenian Claims of Genocide)

Manzara, Offenbach am Main, 2016

Konstruiert, instrumentalisiert, politisiert - Geschichte im Fadenkreuz der armenischen Lobby

Deutsche Übersetzung: Heide Fruth-Sachs und Dr. Vanessa Henze

Manzara, Offenbach am Main, 2018