Henry Beissel  Nordgesänge - frs-lit.de

Epik:

Henry Beissel: Cantos North / 12 Nordgesänge  

Erstveröffentlichung 1982 (Guernica Editions) / Neuveröffentlichung 2016 (engl./franz. übersetzt von Arlette Franciere)

Übersetzung ins Deutsche von Heide Fruth-Sachs (LiteraturWissenschaft-Verlag Marburg) 2020

 

 

1. Nordgesang   Räume und Landschaften

 

Weite leere Leinwand eines rauen Landes/hängt in Fetzen oben vom Eispol und ist unterhalb/über einen einzigen Breitengrad ausgestreckt/ straff gespannt und eingerahmt von zwei Ozeanen./Die Jahreszeiten probieren hier ihre Farbpaletten,/wobei sie uns den Sommer nur im Vorübergehen hinwerfen,/bevor sie zwischen den Skeletten von Ulmen und Ahornen/in ewigen Winterschlaf verfallen und den Boden so/bleich gewaschen hinterlassen wie ein Leichentuch/auf dem das Licht bis auf die Knochen der Stille einfriert./Welcher Künstler wollte es wagen seine Vision aus dem/Totpunkt der Schöpfung trotzig dieser dinosaurischen Gleichgültigkeit entgegen zu halten?

 

Der Norden, meine Liebe, der Norden,/wo die Erde fest steht/der kontinentalen Drift entgegen/ und die Sterne um uns wirbeln/wie ein gefrorenes Feuerrad./Schau nordwärts in die Zukunft/in einer Chrysalis aus Schnee./Unter deinem Blick jubelt die Sonne.

 

Geblendet blinzelt das Auge in all diese Reinheit/auf der Suche nach einer Verwerfung,/wo es eine Welt erbauen kann/in dieser grimmig weißen und wahllos grünen Umgebung:/am Anfang strebte die Leere danach, hier einen Punkt/dort eine Linie oder eine Schattierung zu setzen -/ rätselhaftes Gekritzel der Zeit, Graffiti eines Narren/schiefe Perspektive ohne Sinn, unbegreifliche Formen/ohne Verstand und Zweck, vielleicht ein Geistesgestörter, und dennoch/ungebrochen in den Ketten von Gebirgen, Seen, Ebenen und Wäldern,/geschmiedet, um sogar ein Volk von Titanen in Zaum zu halten.

 

Unsere Reise führt uns nach Norden, meine Liebe, nach Nordwesten,/wo Dunkelheit in unsere/Schneespuren fällt und/der Mond die Kohlezeichnungen der Nacht/auf der ebenen Fläche der Tundra genau nachzeichnet/und was vergeht,/in ein Relief verwandelt.

 

Vielleicht hat die Hand, die diese Landschaften entwarf,/sich geweigert das gigantische Gefüge solcher Weiten/Landkarten anzupassen, oder, wenn solche Wildnis Landkarte ist,/nahm sie das Maß und die Richtung mit Gewalt von eiszeitlichen Wassern/und Gletscherstürmen, ungebändigt sogar im Augenblick der Ruhe,/und der Bereich der Vorstellungskraft wurde in Mythen zerteilt./Vielleicht gab es keine Hand, die Wegweiser aufstellte oder die/Richtung wies. Vor Cartiers Fluch, vor dem Schwert der Wikinger,/vor den Steinzeitnomaden,/sogar vor Kain war diese Welt/ein einziger Kontinent, Pangea, bevor der Quastenflosser halb stöckelnd/halb kriechend aus dem devonischen Meer ans Ufer kam, um sich im Lauf/eines langen Schleppzugs einzurichten auf Festlichkeiten und Klagelieder.

 

Im Norden der Leidenschaft, meine Liebe/im Norden der Berührung des Fleisches/ zündet der Himmel schwarze Kerzen an/ in einem winterlichen Schlaf./Wölfe heulen. / Wach auf und schreie schnell/wenn das weiße Feuer ihrer Eckzähne/Blut schlägt!

 

Dies ist kein Land für ein Herrenvolk. Hier/fließen Flüsse seit unvorstellbar langer Zeit mit/der explosiven Energie  von Gletschern, machen uns/zu Zwergen selbst in unseren Träumen und fegen/ alle Eitelkeit hinweg./ Sonnenflutlicht, /Niagara-Fällen gleich, hat diesen Felsen in einen/Schild gehämmert, der Hochmut durch bloßes Gewicht und Umfang zerquetscht. Stürme durchziehen diesen/Kontinent, der unter den Hufen von Mammut-Herden,/Büffeln und Karibus bebte, die einst den Horizont/bis and die vermeintlichen Grenzen der Unendlichkeit jagten/und unseren Geist in Ehrfurcht versetzten.

 

Der Norden, meine Liebe, der Norden/die Grenzlinien sind gezogen,/damit die Bäume nicht in den Himmel wachsen können./Das blinde Herz rebelliert/und marschiert nordwärts/im Begeisterungsrausch der Eroberung/dem Ruf des Kojoten entgegen. 

 

Die Schneelast verkrüppelt und bricht hier/sogar Bäume, die so hochragend  sind/wie menschlicher Ehrgeiz, im August zucken Blitze/grell züngelnd in die Taiga  und entfachen einen/ Flammensturm, unerbittlich wie ein Albtraum,/oder ein Eisregen verwandelt den borealen Forst/in einen Märchenwald aus Glas, starrer als der Tod;/der Himmel, die Ellbogen tief eingegraben in die/zerklüfteten Buchten von Neufundland kniet schwer/auf den Hängen der Rocky Moutains und lässt/von seinem Würgegriff nciht ab - der Himmel beherrscht/uns alle;Pionieren, Abenteurern und Forschern zum Hohn/ zwingt er das Herz zum Bekenntnis seiner Urwurzeln. 

 

Der Himmel löscht/das Feuer der Sonne,/die weder Süden kennt noch Norden. Unsere Liebe/ist es, die Anhaltspunkte gebiert/in diesem nördlichen Licht/und Wege ins unbekannte/Land dazwischen aufzeigt.